Die Schimmelpilze 1979-1985

Bildfragmente erodierender Realitäten
Geheimnisvolle Surrealität durch chemischen Zerfall

Über Jahrzehnte gelagerte Kontaktabzüge können das Fotopapier mitunter nachhaltig schädigen. Eine bittere Erfahrung, die auch der Zürcher Fotograf Bruno Stettler, 1962 machen musste – nachdem er sein gut gehütetes Fotoarchiv nach rund 30 Jahren erstmals wieder öffnet.

Bruno Stettler musste feststellen, dass die in den 80er-Jahren gebräuchlichen Schutzhüllen für Kontaktbögen bei unpassender Lagertemperatur die Entwicklung von Schimmelpilzen geradezu fördern. Pilze, die sich in der Folge unaufhörlich durch des Künstlers Fotografien frassen. Aktuell arbeitet er sein umfangreiches, Jahrzehnte altes Foto-Archiv auf, das teils zwar wahre Trouvaillen und historisch relevante Aufnahmen beinhaltet, die aber physisch zu zerfallen drohen. Dies bedingt durch den Schimmelpilzfrass, welcher in diesen PVC-Fotohüllen die optimalen Bedingungen für sein Gedeihen fand.

Überraschend, neuartig, emotional

Die nun aufgearbeiteten Fotos sind bis heute unveröffentlicht – und keine dieser Aufnahmen wurde je im Auftrag realisiert. Für Stettler stellt diese Aufarbeitung der eigenen fotografischen Vergangenheit einen ganz wichtigen Schritt auf seinem Weg zum künstlerisch-dokumentarischen Fotografen dar. Zeigt sich doch ihm selbst manchmal erst im Nachhinein die Bedeutung seiner intuitiv gesteuerten Aufnahmen. Es sind Dokumente, dessen Tiefe und erfassten Zeitgeist der Künstler erst jetzt erkennt.

In diesem Zusammenhang lassen sich seine Bilder als Vorboten der gegenwärtigen Handycam-Kultur beschreiben und definieren. Auch bei dieser stehen Unschärfe, grobes Korn, harte Bildausschnitte und Nahaufnahmen im Vordergrund. Eine Ästhetik, welche die Gegenwartsfotografie wie wohl auch die zukünftige Fotografie entscheidend prägen. So zeigen sich in den vielfältigen Arbeiten oft Ansätze, welche die beschriebenen späteren Trends vorwegnahmen. Von harten Kontrasten über illusionistische Bewegungsdynamik bis hin zur amorphen Auflösung der Sujets mittels Weichzeichnung hat er schon viele bildnerische Techniken erforscht und angewandt. Die intensiv vorangetriebene experimentelle Entwicklung ist denn auch Programm und Markenzeichen seines fotografischem Schaffen.

Dutzende von Testreihen mit der Lomo-Kamera

Dieser experimentelle Ansatz fand dann unter anderem auch darin Resonanz, dass Stettler Ende der 90er-Jahre von der Wiener Lomografischen Gesellschaft den Auftrag erhielt, neues Entwicklungspotential für die Lomo-Kamera auszuloten. In der Folge realisierte Bruno Stettler Dutzende von Testreihen, unter anderem mit diversen Glas-, Plastik- und Farbfilm-Effekten, die zum Beispiel die Aufnahmen monochrom erscheinen liessen. Die Idee war dabei ein neuartiges, preisgünstiges Set an Filtern für Laserlicht und Farbeffekten, welches sich optional auf das Objektiv der Lomo-Kameras adaptieren lässt. Die technische Entwicklung in der Fotografie, hin zur Digitalkamera, beendete jedoch diese Forschungsarbeit. Aber er verarbeitet aktuell seit 2008 diese Erfahrungen in neuartigen experimentellen Sessions mit Digitalkameras. Der Forscherdrang lässt ihn offensichtlich nicht ruhen. Und wie beschrieben, entdeckte er in seinem Archiv Fotoarbeiten, die gleichsam erodieren. Das ungeschulte Auge vermag dabei vordergründig eine intensive Bildbearbeitung am Computertisch zu erkennen – oder zumindest den Einsatz von Filtern und dergleichen, die den Werken etwa einen psychedelisch anmutenden, fast malerischen Ausdruck verleihen. Diese Thesen entbehren aber jeglicher Realität. Alle vorliegenden Fotografien des Fotografen sind technisch absolut authentische Aufnahmen. Und dass es sich dabei in erster Linie um Stettler’s private Sujets, wie etwa Weihnachten, Familienfeste und Ferien mit Verwandten und Freunden handelt, ist dabei reiner Zufall. Ein Zufall aber, der wiederum in der aktuellen Gegenwartsfotografie als Einblick ins «authentische Leben» geschätzt und thematisiert wird.

Die Bilder wirken dabei, als gescannte Grossvergrösserungen und auf Leinwand gedruckt, fast wie neuartige Ölgemälde. Aber bei allen gegenwärtigen, amorph-psychedelisch anmutenden Werken handelt es sich, wie beschrieben, letztlich um sich im Auflösungsprozess befindliche Archivkopien aus den 70er- und 80er-Jahren. Es scheint dabei fast unglaublich, was die ursprünglich verwendeten PVC Schutzhüllen mit den Kontaktbögen anrichteten. 30 Jahre feuchte Lagerung im optimalen Temperaturbereich für die Entwicklung von Pilzkulturen veränderten die Originale teils so stark, dass weder Form noch Farbe der Ursprungssujets wieder zu erkennen sind. Es handelt sich dabei um eine Transformation mittels Pilz, welche des Fotografen kleine Kunstwerke mit jedem Jahr neu erscheinen lässt. Die Stufen dieses Prozesses lassen sich denn auch nur mit der angewandten Scan-Technik festhalten. Mit seiner neuesten Werkgruppe dokumentiert Bruno Stettler somit folgerichtig seine eigenen, nun erodierenden Fotorealitäten auf ihrem Weg in den totalen Zerfall. Unheimlicherweise werden diese Werke dabei je länger, desto schöner.

Sascha Serfözö, August 2008