Bruno Stettlers fotografische Reise führte ihn 2009 in das vielschichtige Strassenleben von Port au Princes & Cap Haitien vor dem Jahrhundertbeben.
Seine letzte Fotosafari im Frühling 2009 führte den Zürcher Fotografen Bruno Stettler nach Haiti, dem bis vor kurzem wenig bekannten Inselstaat mit grossen gesellschaftlichen Konflikten. Nun hätte sich Stettler, genauso wie wir alle, nicht in den kühnsten Träumen vorgestellt, dass diese extrem widersprüchliche Land wenige Monate später in Trümmern liegen wird. So haben seine Haiti-Bilder nun krasse Aktualität erlangt, freilich jenseits von aller gegenwärtigen Katastrophen-Fotografie.
Stettlers Intention für seine Haiti-Reise war so auch von gemischter Natur: Einerseits wollte er fotografisch Eindrücke der sensationellen Landschaft festhalten und andererseits gesellschaftliche Realitäten mit seiner Kamera erfassen. Darüber hinaus intervenierte er, zusammen mit seiner Crew, immer wieder ins Alltagsgeschehen mittels aktionistischer Inputs, was nochmals zu ganz anderen, sehr individuellen Bildserie führte. Oft vermischten sich dabei diese drei unterschiedlichen Ansätze zu vielschichtigen Sujets mit mehreren Aussagen.
Seine aktionistischen Inputs gaben den Alltagszenarien meist noch einen besonders spontanen, leicht chaotischen Dreh und lockten die damit konfrontierten Menschen sehr schnell und derart aus ihrer Reserve, wie dies in unseren Breitengraden eher selten der Fall ist. Für das Bild des uniformierten Schulmädchens mit dem Ausdruck von Angstlust im Gesicht, oder für die Aufnahmen von Gefangenen eines haitianischen Gefängnisses, fehlen dem hiesigen Betrachter so schlicht die Referenzbilder. Da tut sich eine neue, uns bis anhin weitgehend verborgene Welt auf, in Sachen Aesthetik, Aussage und gesellschaftlicher Realität. Dies selbstverständlich auch aufgrund der Differenz, dass etwa ein haitianisches Gefängnis in tropischer Umgebung steht und die dortigen Gefangenen schon von sich aus eine ihnen eigene Spontanität in der Reaktion zeigen, die hier desgleichen sucht.
Im Gesichts- und Körperausdruck der aufgenommenen Menschen zeigt sich meist Unmittelbarkeit und absolute Lockerheit, trotz teils widrigsten Lebensumstände. Allein dies machte den ganzen aufwändigen Haiti-Fototrip wohl lohnenswert. Genauso aber auch ganz einfache Bilder wie zum Beispiel diejenigen von Menschen vor einer alten, renovationsbedürftigen Mauer, welche gerade deswegen in reich abgestufter Farbigkeit erscheint und sich so auf wunderbare Weise mit der anziehenden Buntheit der vorbeigehenden Menschen verbindet. Alles zusammen macht Stettlers Bilder zu einer harmonischen Einheit auf hohem Niveau schrill-bunter Expressivität. Teils führen seine Bildserien auch durch tropisches Gehölz zu kleinen Dorfgemeinschaften, die gerade als Strassenmusik-Umzug auf Trampelpfaden unterwegs sind. Auch hier gesellte sich Stettlers Fototeam aktionistisch zur Trommlergruppe, was in Momente spontaner Begeisterung und hingabevoller Improvisation der Beteiligten mündete, welche ebenfalls in sehr schönen, anteilsvollen Aufnahmen festgehalten wurde.
Ob im Tropenwald, auf Arealen kolonialer Ruinenfelder, in Gefängnissen oder mitten im Dorfleben: immer wieder konnte Stettler Szenario und Atmosphäre durch spezielle Blickwinkel wie auch durch geschickte Interventionen in unerwartete Richtungen drehen. Oft allein durch das begeisterte Mitmitwirken an Alltagsmomenten der Einheimischen, wie etwa die beschriebene Beteiligung der Fotocrew am Strassenmusik-Umzug. Da war die Dorfgemeinschaft dermassen von den Schweizern begeistert, dass sie den Anlass in den kommenden Tagen unbedingt noch einmal wiederholen wollten. Diese Begeisterung und Berührtheit durch eine kulturelle Begegnung ist wesentliches Element in Stettlers Aufnahmen.
Die Fähigkeit, Menschen aus der Reserve zu locken, sie vor der Kamera zu spontanem Agieren zu bringen, unverblümt und roh, ist eine der wesentlichen Eigenschaften von Bruno Stettler. Durch diese Gabe ist er auch im Stande, Genres zu vermischen. Was heisst, dass in seiner Fotografie sich dokumentarische Momente, das Portraitieren und die Kunstfotografie die Balance halten und sich oft auf sehr individuelle Weise vermischen. Dieses Können basiert bei Bruno Stettler vor allem auf seinem unvoreingenommenen Zugang zu Menschen. Ohne gesellschaftliche Wertung begibt er sich in verschiedenste gesellschaftliche Milieus und Systeme, egal ob in Brasilia, Kapstadt, auf Kuba oder in Haiti. Stettler sieht den Menschen, der sich durch den Dschungel seiner Verhältnisse schlägt im Vordergrund. Die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse die Stettler dabei vor Ort findet, werden als Thema-gebendes Moment sofort in seine Konzeptfotografie miteinbezogen. In Kombination mit seiner für ihn sehr typischen Interventions- und Aktionslust ergibt sich so letztlich ein ganz eigener Genre- und Thema-übergreifender „Stettler-Stil“.
Haiti war eine Entdeckung für Stettler eigentlich ein Glücksfall, eine bis dato kaum fotografisch erfasste Welt. Mit seiner grenzüberschreitenden Art gelang es ihm einerseits dokumentarisch Interessantes festzuhalten, andererseits mittels seiner gezielten Inputs aber auch sehr intime und quasi unkontrollierte Bilder des Haitianischen Alltags zu schaffen. Vor dem Hintergrund des gewaltigen Erdbebens in Haiti anfangs dieses Jahres wirken diese Bilder aber vor allem auch wie Dokumente einer untergegangenen Welt, da sich ernsthaft die Frage stellt, ob dieses Land je wieder in alter Form auferstehen wird, oder ob nun im komplett zerstörten Jurassic Park nicht ein ganz neues Land entstehen wird.
© Sascha Serfözö, Januar 2010